SS 2018

Konferenz

Ästhetische Eigenzeiten heute: Gegenwart, Gegenwärtigkeit, Vergegenwärtigung /Aesthetic Temporalities Today: Present, Presentness, Presentation


4. Jahrestagung des DFG-Schwerpunktprogramms:
Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne
(SPP 1688)
13.-15. Juli 2018, ICI Berlin
Organisation: Michael Bies, Michael Gamper, Gabriele Genge, Ludger Schwarte und Angela Stercken
Programm 4. Jahrestagung, SPP "Ästhetische Eigenzeiten", Berlin 2018
Gegenwart, Gegenwärtigkeit, Vergegenwärt
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Die Gegenwart steht nicht mehr länger bruchlos zur Verfügung. Bildete die Rede von der ‚Gegenwartskunst‘ seit den 1960er Jahren ein brauchbares Vehikel, um die Ideologie der Moderne und die damit verbundene Idee von Fortschritt abzulösen, wird diese Herrschaft der Gegenwart nun ebenfalls zunehmend infrage gestellt, indem suggeriert wird, dass an die Stelle der Bewahrung der Gegenwart vor den falschen Versprechen der Zukunft längst ein von technischen Dispositiven instituiertes ‚eternal present‘ getreten sei.[i] Nicht nur ist zu beobachten, dass die Historisierung des Konzepts ‚Gegenwart‘ vorangetrieben[ii] und seine Emergenz zu Beginn der Moderne untersucht wird.[iii] In Anbetracht der medialen, technologischen, ökonomischen und nicht zuletzt politischen Umbrüche wird mehr und mehr auch das ‚Ende der Gegenwart‘ als einer uns vertrauten Zeit ausgerufen, die mithilfe tradierter Semantiken gedeutet und stabilisiert werden kann,[iv] und mit Blick auf die Künste das Ende der ‚zeitgenössischen Kunst‘ und die Orientierung hin auf eine ‚künftige Kunst‘ gefordert.[v] An die Stelle des ‚Angriffs der Gegenwart auf die übrige Zeit‘ (Kluge) scheint ein ‚Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart‘ getreten zu sein, ohne dass deshalb feststünde, was das alles sein könnte: ‚übrige Zeit‘.

 

Ungeachtet dieser Historisierungen und dem proklamierten Ende bleibt die ‚Gegenwart‘ zugleich ein kaum verzichtbarer Bezugspunkt für Reflexionen über dasjenige, was ‚Gerade Eben Jetzt‘ ist, nicht ist und sein könnte.[vi] Das belegt auch die ungebrochene Konjunktur von Begriffen und Konzepten wie ‚Gegenwärtigkeit‘ und ‚Vergegenwärtigung‘, die ohne ein Verständnis von ‚Gegenwart‘ nicht denkbar sind. Darüber hinaus zeigt sich ihre fortwährende Bedeutung sowohl in der anhaltenden Reflexion von ‚Zeitgenossenschaft‘ als dem Versprechen einer geteilten Zeit, dessen Einlösung noch aussteht,[vii] obwohl die ökonomische und mediale Globalisierung diese längst herbeigeführt zu haben scheint.[viii] Das Fragen danach, was es eigentlich heiße, ‚gegenwärtig‘ zu sein, wie ‚Gegenwart‘ und ‚Gegenwärtigkeit‘ überhaupt möglich seien und wie und durch welche Medien, Techniken und Verfahren sie produziert werden können, wird gerade jetzt virulent.

 

Gerade jetzt? Jene Wahrnehmungen einer globalisierten Gegenwart provozieren weitaus grundlegendere Fragen nach den Funktionen, die ‚Vergegenwärtigungen‘ in transkulturellen räumlichen Bezugsfeldern zukommen. In den jüngeren Auseinandersetzungen mit ‚Gegenwart‘ wurde deutlich, dass diese durch universalistische Reflexionen nicht gefasst werden kann, weil sie an eine geopolitisch bestimmte räumliche Öffnung, Kontaktaufnahme und Wahrnehmung relationaler Autorität gebunden ist.[ix] Wenn Gegenwart in diesem Sinne als eine ebenso globale wie relationale Zeitgenossenschaft verstanden wird, steht sie quer zu jenen dinghaften und raumgebundenen Formen materieller Anwesenheit und Zeitlichkeit, die als ‚Präsens‘ oder ‚Präsenz‘ als wahrgenommene Gegenwärtigkeit oder ‚Anwesenheit‘ eines Gegenwärtigen den Verzicht auf Historizität und Hermeneutik suggerieren.[x] Als beispielhaft hierfür kann das ‚ethnologische Präsens‘ gelten, der Erlebnisbericht von einer ‚anderen‘ Gegenwart, oder die Rede von der Präsenz als erfahrbarer ‚befremdender‘ körperhafter Anwesenheit (presence) in Artefakten, Objekten und Bildern.[xi] Vorstellungen von Gegenwart als Zeitgenossenschaft hingegen haben etwa Bruno Latour und Eduardo Viveiros de Castro mit ihren Programmen einer symmetrischen Anthropologie ebenso wie Achille Mbembe in seinen Thesen zu den gegenwärtigen Zeitregimen einer ‚schwarzen‘ Aufklärung formuliert.[xii]

 

Allerdings kann ein durch ‚Präsens‘ und ‚Präsenz‘ gekennzeichnetes Verständnis von Gegenwart nicht nur im Rückgriff auf Überlegungen zur ‚Zeitgenossenschaft‘ aufgebrochen werden. Vielmehr muss es auch von Reflexionen begleitet werden, die diese stärker aus zeitlicher Perspektive relativieren. Hierfür wäre ‚Gegenwart‘ einerseits auf ihr Verhältnis zur (post-)modernen Historizität zu befragen, die in ihr fortwirkt, sich im globalen beziehungsweise transnationalen Konglomerat zerstreut und sich anderen Zeitformen und Chronologien aussetzt. Andererseits wäre Gegenwart auch in die Zukunft zu öffnen und „mit FUTURITÄT zu punktieren“.[xiii] Dabei wäre jeweils zu berücksichtigen, dass Gegenwart nie einfach ist und auch nie einfach gegeben ist, sondern dass sie immer wieder neu, vor allem in Differenz zu anderen Gegenwarten, hergestellt werden muss.

 

Die Jahrestagung „Ästhetische Eigenzeiten heute: Gegenwart, Gegenwärtigkeit, Vergegenwärtigung“ im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ will sich die Frage nach der Gegenwart vor allem im Hinblick auf die eigene ‚Gegenwart‘ stellen.

 

Neben dem Begriff der ‚Gegenwart‘ sollen hierfür auch die benachbarten Phänomene von ‚Gegenwärtigkeit‘ und ‚Vergegenwärtigung‘ behandelt werden. Dabei soll ‚Gegenwärtigkeit‘ gleichsam einen Modus eines subjektiven oder kollektiven ‚In-der-Gegenwart-Seins‘ bezeichnen, ‚Vergegenwärtigung‘ hingegen stärker auf die Medien, Techniken und Handlungen verweisen, durch die Gegenwart jeweils produziert wird. ‚Gegenwart‘, ‚Gegenwärtigkeit‘ und ‚Vergegenwärtigung‘ sollen dabei weniger als Phänomene einer räumlich gedachten Anwesenheit, sondern als zeitliche Phänomene untersucht werden: als Phänomene, die polychronal sind, die ein Streben nach Dauer und Ewigkeit mit Kürze und Flüchtigkeit verschränken und sich ebenso durch die Hypostasierung des ‚Jetzt‘ wie durch die Sehnsucht nach dem ‚Gerade-Eben‘ und das Versprechen auf das ‚Jetzt-Gleich‘ auszeichnen können; als Phänomene aber auch, die sich als Ergebnisse spezifischer zeitlicher Konfigurationen und Regime auffassen lassen, die selbst wiederum bestimmte Zeiten und Eigenzeiten ausprägen und nicht zuletzt Verständigungen darüber strukturieren, was die Zeit ‚gerade eben jetzt‘ auszeichnet.

 

Anmerkungen

 

[i]   Vgl. Geoffrey C. Bowker: All Together Now. Synchronization, Speed, and the Failure of Narrativity, in: History and Theory 53 (2014), S. 564-576; oder auch Marcus Quent (Hrsg.): Absolute Gegenwart, übers. von Hannes-Caspar Petzold, Berlin 2016.

[ii]   Vgl. Maria Muhle: History will repeat itself. Für eine (Medien-) Philosophie des Reenactment, in: Lorenz Engell, Frank Hartmann, Christine Voss (Hrsg.): Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München/Paderborn 2013, S. 113-134; Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichte und ihre Erklärung, Berlin 2012.

[iii]   Vgl. Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014.

[iv]   Vgl. Armen Avanessian, Suhail Maik (Hrsg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary, übers. von Ronald Voullié, Berlin 2016.

[v]    Vgl. Ludger Schwarte: Notate für eine künftige Kunst, Berlin 2016. Zur ‚zeitgenössischen Kunst‘ vgl. auch Christine Ross: The Past is the Present; It’s the Future Too. The Temporal Turn in Contemporary Art, New York/London 2012; Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013; Peter Osborne: Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London 2013.

[vi]    Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003.

[vii]   Vgl. besonders Giorgio Agamben: Was ist Zeitgenossenschaft?, in: ders.: Nacktheiten, übers. von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010, S. 21-36.

[viii]   Vgl. Gabriele Genge: Art. „Kunstwissenschaft“, in: Friedrich Jaeger, Wolfgang Knöbl, Ute Schneider (Hrsg.): Handbuch Moderneforschung. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2015, S. 132-142; sowie Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996; Terry Smith, Okwui Enwezor, Nancy Condee (Hrsg.): Antinomies of Art and Culture. Modernity, Postmodernity, Contemporaneity, Durham/London 2008.

[ix]    Mathur Saloni (Hrsg.): The Migrant’s Time. Rethinking Art History and Diaspora, New Haven, Conn. 2011; Mieke Bal: Heterochrony in the Act. The Migratory Politics of Time, in: dies., Miguel Á. Hernández-Navarro (Hrsg.): Art and Visibility in Migratory Culture. Conflict, Resistance, and Agency, Amsterdam 2011, S. 211-139.

[x]     Prominent etwa Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2004.

[xi]    Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit (1967), in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 334-374. Vgl. auch Gabriele Genge, Angela Stercken (Hrsg.): Art History and Fetishism Abroad. Global Shiftings in Media and Methods, Bielefeld 2014.

[xii]   Vgl. besonders Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2008; Eduardo Viveiros de Castro: Métaphysiques cannibales. Lignes d’anthropologie post-structurale, übers. von Oiara Bonilla, Paris 2009; Achille Mbembe: Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im gegenwärtigen Afrika, Wien 2016.

[xiii]   Schwarte: Notate für eine künftige Kunst, S. 15.